Als ich mich am 26 Oktober in Münster in ein kleines italienisches Restaurant setze und das Aufnahmegerät anschalte, ist mir eigentlich schon klar, dass ich mich mit Andreas Gaertner auf eine Gedankenreise begebe. Heute, eine Woche vor Weihnachten, ist es mir eine Freude, euch mitzunehmen zu den Punkten, an die mich der Graphic Recorder, Fernsehzeichner und Stift-Rhetoriker geführt hat. Auf unserem Weg haben wir über Haltungsfragen in Zusammenhang mit Tätowieren, Graphic Recording, Kleidungsstil und Brokkoli gesprochen. Unter anderem.
Wem der Weg zu langwierig erscheint und wer die Abkürzung sucht, der kann gerne unten ein kurzes Fazit lesen. Ich lege euch aber den gedanklichen Ausflug ans Herz, denn Haltung entsteht nicht auf dem Reißbrett, sondern unterwegs, gewissermaßen aus sich selbst heraus.
Kleider machen Leute. Und transportieren Haltung. Weste, Einstecktuch, Armband – alles farblich passend abgestimmt. Eine Botschaft. Ein intensiver erster Eindruck. Bereits aus meinem ersten Gespräch mit Markus Gull habe ich mitgenommen, dass Haltung wertfrei ist. Man könnte auch sagen, Haltung hinterlässt Eindruck, unabhängig davon, wie wir ihn interpretieren. Andreas Gaertner hat mich sehr beeindruckt: Er ist nämlich nicht nur ein unglaublich sympathischer Zeitgenosse, er ist inspirierender Gedankengeber, ein guter Zuhörer und zudem wahnsinnig stilsicher gekleidet. Zu seinem Outfit sagt er: „Ich habe mich für diesen Stil entschieden, weil ich mich darin wohlfühle. Es ist wie eine Uniform, im besten Fall ein positiver Panzer, der mir Sicherheit gibt. Ich mag es, wenn alles zusammen passt. Denn die Art, wie man sich kleidet, transportiert auch, wie man seinen Job tut, wie man mit sich umgeht, und mit anderen.“ Und fügt schmunzelnd an: „Es gibt eine Studie, die herausgefunden hat, dass Menschen, die Zahnseide benutzen, länger leben. Das ist natürlich nur eine Korrelation. Aber Menschen, die Zahnseide nutzen, achten mehr auf ihren Körper. Das ist eine Frage des Bewusstseins.“
Kleider machen also Leute. Man transportiert eine Einstellung und hinterlässt einen guten Eindruck, wenn man sich dem Anlass entsprechend kleidet. Obwohl man privat lieber Jeans und Sneaker trägt. Ist das dann eigentlich noch Haltungskonform? „Natürlich“, findet Andreas. „Wenn man sich schick macht, ist das ja auch eine Form der Wertschätzung sich selbst und anderen gegenüber. Manchmal sagen Kunden zu mir ‚Mensch, du siehst aus als würdest Du auf eine Hochzeit gehen.‘ Dann sage ich: ‚Ja, ich heirate gerade Ihr Business.‘“ Eine bewusste Einstellung, die sich überzeugender anfühlt, als gelerntes Argumentieren.
Bewusstsein ist überhaupt ein ständiger Begleiter unseres Gedankengangs. Andreas Gaertner lässt sich gerne ein auf das, was kommt. Weil ihm bewusst ist, dass Wege beim Gehen entstehen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir dabei über Brokkoli gestolpert sind: Lieber Andreas, wenn Haltung ein Gericht wäre, was wäre es?
„Haltung ist wie Brokkoli auf einem Teller. Obwohl man Hunger hat auf eine Currywurst, weiß man, das arme Schwein hat für die Currywurst gelitten. Und das ist nicht gut.
Andreas Gaertner im Oktober 2020
„Haltung ist wie Brokkoli auf einem Teller. Obwohl man Hunger hat auf eine Currywurst, weiß man, das arme Schwein hat für die Currywurst gelitten. Und das ist nicht gut. Du isst also Brokkoli, weil es dir und der Umwelt gut tut. Ein geil zubereitetes Gemüse, das ist Haltung für mich.“ Es ist diese reflektierte Art des Nachdenkens und Äußerns, die mich als Zuhörer fesselt. Wer besonnen und pointiert über sein Leben spricht, hat sicherlich einen interessanten Weg hinter sich. Andreas Weg begann tatsächlich in einem Tattoo-Studio auf der Reeperbahn. Der Security-Mann des Fashion Stores, in dem Andreas arbeitete, hatte ihn an den befreundeten Tätowierer empfohlen. Andreas könne ja gut zeichnen. Warum nicht? Wenn Wege beim Gehen entstehen, dann ist dies sicher ein hoch interessanter Abzweig. Ich hatte gehofft, dass wir über seine Tätigkeit als Tätowierer etwas über Haltung erfahren. Und tatsächlich: An dieser Station seines Werdegangs zeigt sich, wie facettenreich und polarisierend Haltung sein kann. Der Besitzer des Tätowierstudios war Mitglied der Hells Angels. Auch eine Haltung. Jeder Mensch trägt eine Überzeugung in sich, ein Setzkasten moralischer, kultureller und persönlicher Anschauungen, die unsere Wahrnehmung und unsere Entscheidungen beeinflussen. „Die Hells Angels – ich dachte das sei so ein gemütlicher Motorradverein, der Sonntagsausflüge mit den Ladies macht. Und dann habe ich schnell gemerkt, dass diese Klientel nicht kompatibel ist mit meiner Weltanschauung. Also habe ich ziemlich radikal die Tätowiernadel fallen lassen und gesagt ‚Das ist nichts für mich.‘“
Haltung bedeutet Entscheidung. Eine von mehreren Alternativen bewusst zu wählen und die Konsequenzen zu tragen. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass insbesondere das Graphic Recording eine hervorragende Spielwiese für Feldforschung in Haltungsfragen bereitstellt. Graphic Recorder verdienen ihr Geld mit Wahrnehmung. Als Filter verbaler und verkörperter Kommunikation. Unzählige Konzernveranstaltungen, Kongresse und Events hat Andreas begleitet und dabei ganz genau zugehört und hingeschaut. Er konnte beobachten, was jemand sagt, und wie er oder sie sich verhält. Ich selbst erlebe Organisationen als ambivalente Organismen. Oft erlebe ich eine Diskrepanz zwischen dokumentierter visionärer Kraft und erlebtem operativen Straucheln. Mich interessiert, wie ein Graphic Recorder die Glaubwürdigkeit in Summe wahrnimmt. Walk the talk oder Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?
„Als Zuhörer sind wir Detektive. Du spürst, ob jemand gerade so tut als ob, oder ob er das wirklich ist. Das sind kleine Gesten, das ist die Mimik. Wenn du auf der Bühne jemanden siehst, dessen nervöse Körperhaltung dem widerspricht, was er sagt, dann merkst du, das ist nicht glaubwürdig. Dann folgst du ihm nicht.“
Das gilt im Übrigen auch für unternehmensinterne Kommunikation. Mitarbeitende spüren auf, was im Argen liegt oder im Verborgenen bleiben soll. Was auch immer eine Geschäftsführung sich auf die Fahnen schreibt, ich habe bisher noch in fast jedem meiner Projekte Unstimmigkeiten zwischen proklamierter und praktizierter Führungskultur erleben dürfen. Wer ein ehrliches Interesse daran hat, Menschen in das sprichwörtliche gemeinsame Boot zu holen, sollte mit der Partizipation frühzeitig anfangen. Das gilt auch für die Entwicklung strategischer und visionärer Gedanken:
Die Glaubwürdigkeit und das Annehmen von Bildern in Unternehmen steigt, wenn man es mit den Menschen gemeinsam entwickelt.
Andreas Gaertner im Oktober 2020
„Die Glaubwürdigkeit und das Annehmen von Bildern in Unternehmen steigt, wenn man es mit den Menschen gemeinsam entwickelt“, weiß der studierte Illustrator, der neben dem Graphic Recording mit seiner Agentur Die Zeichner unter anderem Strategie- und Visionsbilder entwickelt.
Haltung gedeiht durch Partizipation. Persönliche Haltung wirkt sich zwangsläufig auf unser Umfeld aus. Unabhängig davon, ob man sie antizipiert oder sich von ihr distanziert. So, wie die Haltung zunächst wertfrei für sich steht, lässt die Teilhabe Außenstehender Entscheidungsspielraum für ein Pro oder ein Contra. Wichtig erscheint mir, andere bewusst an meiner Haltung teilhaben zu lassen. So ermögliche ich es meinem Umfeld, sich mit oder gegen meinen Standpunkt zu positionieren. Dieses Bewusstsein wird in hierarchisch organisierten Unternehmen leider immer noch zu selten kultiviert. Aus Angst vor unbequemen Fragen vielleicht, ich weiß es nicht. Und so bleibt vielen nur die Beobachtung dessen, was Unternehmenslenkerinnen und -lenker sagen und tun. Die Ironie ist, dass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter innerlich die Entscheidung trifft, ob sie einer klaren Haltung folgen oder einem inkonsistenten Gewurschtel aus Sagen und Handeln innerlich die Kündigung ausstellen.
Graphic Recording stelle ich mir in diesem hierarchiedominierten Kontext schwierig vor. Schließlich wird man für eine gefilterte Dokumentation des Gesagten bezahlt. Man entwirft also einen Spiegel der Kommunikation. Wie bewahrt man Haltung, wenn das Spiegelbild nicht schmeichelhaft ausfällt? „Ich wurde mal von einem großen Konzern für ein Recording in Barcelona gebucht. Ich hatte bereits den CEO, den COO und alle anderen festgehalten. Und nun stand der CFO auf der Bühne und ich verstand ihn nicht. Ich verstand seine Sprache, aber ich nicht seine Botschaft. Das Papier war weiß – nach dem Vortrag. Da kommt seine Assistentin mit hochrotem Kopf zu mir und sagt: ‚Was der Chef sagen wollte ist…‘ Und gibt mir einen Zettel mit den drei wesentlichen Botschaften. Genau das ist eine Frage der Haltung, meine bewusste Entscheidung nichts statt irgendetwas aufzuschreiben.“
Andreas Gaertner entscheidet sich sehr bewusst für oder gegen Dinge. Zum Beispiel für 16 Jahre Selbständigkeit. Ich frage mich, was ein Arbeitgeber eigentlich anstellen müsste, um einen Freigeist wie ihn heute noch in eine Festanstellung zu bewegen. „Der Arbeitgeber müsste etwas haben, woran ich richtig wachsen kann. Wie bei Tesla. Wenn ich mir vorstelle, in der Nähe von Elon Musk zu sein – dafür würde ich gratis arbeiten. Es bräuchte eine visionäre Kraft mit wahnsinnigem Output, wo man spürt, dieser Mensch steht das durch, baut etwas auf, und ich will lernen, wie das funktioniert, wie man diesen Fokus entwickelt.“
Wenn Haltung ein Leuchtturm ist, dann ist Fokus ein Kompass. In unruhigen Gewässern Entscheidungen zu treffen erfordert Kraft. Unsere Haltung gibt uns dabei die große Richtung vor. Und Fokus ist möglicherweise der Kompass für die nächsten kleinen Schritte Richtung Horizont. Elon Musk scheint beides zu vereinen: Visionäre Kraft und Fokus. Grund genug für Andreas, Fokus zu praktizieren. „Ich habe morgens eine Zeit von 8 Uhr bis 10 Uhr, in der ich versuche, fokussiert an dem zu arbeiten, was mich in meiner Branche voranbringt. Das verbinde ich mit Elon Musk: 100% Fokus. Und: dafür auch konfliktbereit sein. Das nenne ich den sogenannten Musk Mode. Mich faszinieren Menschen, die sich auf ihr Signal konzentrieren.“ Auf ihr Signal – das bringt mich zum Nachdenken. Es löst etwas in mir aus, erzeugt Resonanz, führt mich zu meiner Ausbildung als Facilitator. Einer unserer zentralen Glaubenssätze lautet: Es ist alles da. Eine Aussage, die im Kontext von Gruppengesprächen, Workshops und Seminaren durchaus Sprengkraft haben kann. Schließlich setzt sie Vertrauen voraus. Vertrauen darauf, dass uns alles, was im Moment präsent ist, weiterbringt. Andreas sieht es ähnlich: „In Zeiten von Corona habe ich endlich gelernt zu meditieren. So langsam verstehe ich die Prinzipien dahinter und merke ‚Hey Andreas, höre, dir mal zu. Die Antworten und die Ideen für neue kreative Bilder, für das, was wichtig ist, alles da drin.‘“ Dabei tippt er sich bedeutsam an die Stirn.
Die nach Innen gerichtete Haltung ist der Ursprung. Außen kann nur wirksam werden, was uns innerlich antreibt. So schaffen wir Realitäten, so kommt es, dass es angeblich genau so aus dem Wald heraus schallt, wie wir hinein rufen. Das ist auch der Grund, warum Andreas zwar ein ausgesprochen visueller Mensch ist, der sich aber lieber durch Bücher inspirieren lässt, als durch opulente Bilder oder energiegeladene Blockbuster.
Die Haltung ist oft, dass Information und auch Inspiration von außen kommen. Aber es ist alles in uns.
Andreas Gaertner im Oktober 2020
„Bei Büchern entsteht der Blockbuster ja in deinem Kopf, das ist die Magie, denn da begegnest du den inneren Helden. Die Haltung ist oft, dass Information und auch Inspiration von außen kommen. Aber es ist alles in uns. In uns ist auch die Idee für das nächste coole Buch, Projekt, was auch immer.“
Das, was in unseren Köpfen entsteht, ist Realität. Je mehr wir dabei auf unsere inneren Signale hören, unserer inneren Überzeugung folgen, desto glaubwürdiger und standfester können wir für das einstehen was wir tun. „Es gibt ein schönes chinesisches Sprichwort, das möchte ich unbedingt mit Dir teilen“, meint Andreas dazu. „‘Leben ist wie Zeichnen ohne Radiergummi.‘ Genauso ist es, wenn ich live irgendwo zeichne: Ich habe keinen Radiergummi dabei. Höchstens Tipp-Ex für grobe Schreibfehler. Was ich visuell anbiete, ist da, bleibt da. Und wird nicht verändert.“ Wunderbar, oder? Man kann es mögen, ablehnen, darüber lachen, streiten, einstimmig schweigen. Ein Recording spiegelt einen Moment der Haltung wieder. Apropos Moment, eines interessiert mich noch sehr: Bei all den Veranstaltungen, die Andreas begleiten durfte, ist ihm ein Moment in Erinnerung, in dem jemand eindrucksvoll Haltung bewiesen hat? „Das war bei einem großen Graphic Recording im Rahmen eines sehr großen Kongresses einer deutschen Wochenzeitung. Da haben zwei Speaker über Kommunikation gesprochen. Also darüber, wie man mit Menschen spricht. Dabei muss man sagen, sie haben wirklich schlecht präsentiert, abgelesen, wirkten gelangweilt. Plötzlich ist ein Mann im Raum aufgestanden und seiner Haltung gefolgt, es nicht mit sich machen zu lassen, dass Menschen etwas erzählen, was sie selbst nicht tun. Er ist also nach vorne gegangen und hat die Speaker angeschrien, sie sollten aufhören mit ihrem Scheiß, wie sie denn mit uns reden würden.“
Haltung bricht sich Bahn. Mit oder ohne Bewusstsein. Wenn ich nach meinen ersten sechs Gesprächen zum Thema Employer Standing ein Zwischenfazit ziehen sollte, dann wäre es wohl die Feststellung, dass Haltung sich ihren Weg bahnt. Und zwar unabhängig davon, ob sie es mit Hilfe meines Bewusstseins tut, oder eben ohne. Allerdings, mit Selbst- und damit Haltungsbewusstsein macht es wesentlich mehr Spaß und wirkt deutlich überzeugender. Elementar dabei sind das Vertrauen auf den Moment, das aufmerksame Zuhören und selbstlose Zulassen sowie die Kraft des Visionären. Es kann viel Gutes passieren und alles, was wir dafür benötigen, ist in uns, im Moment. Ich finde beispielsweise die passenden Worte für diesen Artikel beim Joggen. Es ist Montagnachmittag, 16:18 Uhr, der Himmel wolkenverhangen und diesig. Aber ich hatte das Gefühl ich muss für den Blogartikel an die frische Luft. Um in mich zu hören. Und meinem eigenen Gedankengang freien Lauf zu lassen. Ich vermute, Andreas Gaertner kann das gut nachvollziehen. Und viele Entscheider sollten es ebenfalls tun, damit irgendwann einmal mal echte Führungskräfte mit ausgeprägtem Bewusstsein für ihre innere Haltung aus ihnen werden. Menschen wie in dem Bild, das Andreas zum Thema Haltung zusammenfassend aufs Papier bringt: „Jemand geht mit dem Leidenschaftsherz in der starken erhobenen Hand in Richtung seines Ziels.“
In diesem Sinne: Immer schön Haltung bewahren!