Employer Standing: Haltungsfragen im Diskurs mit Wolfgang Bosbach

Am Donnerstag den 8. Oktober habe ich auf „Senden“ geklickt und meine Gesprächsanfrage an Wolfgang Bosbach auf den Weg gebracht. Mit wenig Hoffnung auf positive Rückmeldung. Volle Kalender und sicherlich jede Menge wichtigere Anfragen legten die Vermutung nahe, dass es auch in diesem Fall nicht klappen würde.
Am Samstag den 10. Oktober kam die Antwort: „Können wir gerne machen.“
Am Dienstag den 13. Oktober saß ich im schönen Bergisch Gladbach-Bensberg in einem kleinen lichtdurchfluteten Besprechungszimmer eines Privathotels zwischen Fachwerk und moderner Kunst einem sehr zuvorkommenden und nahbaren Spitzenpolitiker gegenüber. Und konnte die Frage stellen, die mich die Tage zuvor umgetrieben hatte:

Herr Bosbach, Ihr Terminkalender wird gut gefüllt sein. Und nun kommt einer und sagt, er möchte sich gerne mit Ihnen über Haltungsfragen unterhalten. Wieso haben Sie zugesagt?

Gesprächswünsche gibt es jeden Tag. Nicht alle kann man erfüllen, aber die meisten. Warum soll ich da bei Ihnen eine Ausnahme machen?

Auf Youtube habe ich einen Kommentar zu einem Ihrer Talkshowauftritte gelesen, ich zitiere: „Der Dampfplauderer Bosbach, der alle erreichbaren Mikrofone und Kameras aufsucht, gehört für mich in die Riege der feigen alten Männer aus der CDU, die erst nach Ende ihrer politischen Laufbahn kritische Worte in der Öffentlichkeit auch zur Politik ihrer Kanzler/in äußern (Blüm, Geißler, Vogel & Co.), wenn ihre gute Rente „durch “ ist!“ Was würden Sie einem solchen Menschen entgegnen?
(Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=G8I24lTJgnE)

Auch Schwachsinn fällt unter das Recht auf freie Meinungsäußerung. Für mich persönlich gilt: wenn, wie hier, ein Kommentar völlig substanzlos ist, weil noch nicht einmal ein einziges Sachargument geliefert wird,  gehe ich einfach kopfschüttelnd zur Tagesordnung über.

Wie schwer fällt es im politischen Diskurs, Meinung zu vertreten?

Das fällt dann nicht schwer, wenn man die Meinung mit Sachargumenten gut begründen kann. Denn darauf kommt es entscheidend an: die Kombination von Meinung und Ahnung. In Deutschland ist die Grenze das Strafrecht, ansonsten kann sich jeder äußern, wie er das gerne möchte. Man hört es, man liest es und geht zur Tagesordnung über. Wer seine politische Überzeugung gut begründen kann, der muss keine Angst haben, an die Öffentlichkeit zu gehen.

In meiner Erinnerung waren die Debatten in meiner Kindheit besonders lebhaft. Und auch heute geht es mitunter hoch her. Geht die Sachlichkeit über die Leidenschaft manches Mal verloren?

Eher selten. Wenn ich die Debatten im Deutschen Bundestag oder in anderen Parlamenten vergleiche mit den Debatten, die in den Parlamenten vieler anderer Staaten der Erde geführt werden, dann geht es bei uns eher ruhig und sachlich zu, von einzelnen Ausnahmen abgesehen.

Hinter den Kulissen, etwa in Ausschüssen, herrscht doch sicher ein anderer Ton?

Ja, das stimmt. Und es ist auch gut so, dass es in Ausschüssen betont sachlich zugeht, denn dort wird die eigentliche Sacharbeit gemacht. Je enger man zusammensitzt, desto eher lernt man sich auch persönlich kennen, spricht auch über die Fraktionsgrenzen hinweg ein privates Wort mit Kolleginnen und Kollegen und dann wird es auch eher ruhiger als in den großen Debatten im Plenum.

Im politischen Diskurs ist es ja häufig ein Ringen um Argumente. Was braucht es mehr: Gegeneinander oder Miteinander?

In der Politik haben Sie immer beides. Man sucht ja nicht den Streit um des Streites Willen. Aber wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, müssen die ausgetragen werden – auch vor den Augen der Öffentlichkeit, damit sich das Publikum eine eigene Meinung zu den verschiedenen Argumenten bilden kann. Und da, wo man gleicher Auffassung ist, sollte man das auch nicht verheimlichen.

Gibt es aus Ihrer politischen Laufbahn einen Leitgedanken, der Ihr Leben begleitet?

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkBeruflich nicht, eher persönlich: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, von Erich Kästner. Denn es kommt sehr oft vor, dass man denkt, da müsse man doch etwas tun. Aber wer bitteschön ist man? Meistens sind die anderen damit gemeint, weil man selbst glaubt, es nicht tun zu können.

Was gehört dazu, Meinung zu vertreten?

Ahnung. Ich muss von dem Sachverhalt, über den ich spreche, hinreichende Sachkenntnis haben und dann meine Haltung mit guten Argumenten begründen können. Erst recht in der Öffentlichkeit.

Im Rahmen einer Debatte gibt es reichlich Gegenwind. Nimmt man da nicht manches persönlich und abends mit nach Hause?

Nein, überhaupt nicht. Solange es nicht persönlich wird, nehme ich es auch nicht persönlich. Es ist ja in der Politik nicht die Ausnahme, sondern es ist die Regel, dass Regierung und Opposition unterschiedliche Auffassungen haben und unterschiedliche Argumente austragen.

Was stärkt Ihnen dabei den Rücken?

Die innere Überzeugung, dass das, was ich tue und sage, meiner persönlichen Überzeugung entspricht und ich das auch mit guten Argumenten begründen kann. Wobei ich niemandem zumuten möchte, sich gegen seine Überzeugung der Meinung anzuschließen. Wenn jemand anderer Meinung ist, bitteschön. Ich merke nur, dass es unfassbar vielen Menschen schwerfällt, klaglos zu akzeptieren, wie ich es tue, dass andere Menschen zu bestimmten Themen eine andere Meinung haben. Nach dem Motto: „Sie haben Meinungsfreiheit, aber passen Sie auf, wenn Sie von diesem Recht Gebrauch machen. Dann gibt`s Ärger.“

Ärger, den man aushalten muss und der zum Teil legitim ist?

Wie gesagt, wenn es nicht persönlich wird, habe ich damit überhaupt kein Problem. Wer Ärger scheut, sollte nicht in die Politik gehen.

Wie geht man damit um, wenn man gegen die Überzeugung der eigenen Partei eine Meinung vertritt und das Gefühl hat, beides deckt sich nicht mehr in einem vertretbaren Maße? Das ist doch sicher eine schwierige Entscheidung?

Das ist deshalb eine schwierige Entscheidung, weil man ja nicht gegen die eigene Partei antreten, sondern mit der eigenen Partei für seine Überzeugung kämpfen möchte. Aber wenn eine Partei ihre Meinung ändert, aus welchen Gründen auch immer, ist das für mich nicht automatisch ein Grund, auch meine Haltung zu ändern.

Ich frage mich manchmal, ob in Zukunft Parteien gewählt werden oder Personen. Was glauben Sie, wie viel hängt an dem Menschen selbst, der Meinung vertritt, Öffentlichkeit wahrnimmt und für sich einnimmt? Ist das eine Frage der Persönlichkeit oder der Parteizugehörigkeit?

Das ist eher eine Frage des Vertrauens. Ob die Menschen einem vertrauen oder nicht. Ob sie das Gefühl haben, der ist zuverlässig, der ist ehrlich, der ist anständig, auf den kann ich mich verlassen. Das ist entscheidend.

Ist es dann nicht eigentlich egal, welcher Partei die Person angehört?

Nein. Denn Person und Partei sind ja miteinander verknüpft. Die Frage ist also zunächst einmal, wen die Partei aufstellt. Und dann sehen Sie, dass die Abweichung zwar nicht besonders groß, aber doch von Wahlkreis zu Wahlkreis sehr unterschiedlich ist. Bei meiner letzten Kandidatur haben 14 % mehr Bosbach gewählt, als die CDU. Mit anderen Worten, in meinem ehemaligen Wahlkreis gibt es Tausende, die sagen: „CDU ist seine Partei, aber nicht meine. Aber ich wähle ihn als Person mit der Erststimme.“ Und das, obwohl sie mit der Zweitstimme eine andere Präferenz haben. In diesem Punkt geht es meiner Überzeugung nach nicht um politische Kongruenz oder politische Abweichungen, sondern um das Vertrauen in die Person.

Was braucht es, damit ein Mensch Massen dazu bewegt, ihm oder ihr zu folgen?

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkIch weiß nicht, was sie unter folgen verstehen. Ich bin ja nicht Mahatma Gandhi oder Martin Luther King. Folgen hört sich für mich immer so nach blindlings hinterherlaufen an. Das kann ich von niemandem erwarten oder verlangen und es wäre mir auch selbst nicht so sympathisch. Aber grundsätzlich gehört für einen Politiker sicherlich die Fähigkeit dazu, Politik gut erklären zu können.

Aber Politiker kann ich ja nur sein mit entsprechenden Mehrheiten – zumindest, wenn ich meine Ideen durchsetzen will…

Nein, Politiker können Sie auch sein, wenn Sie in der Minderheit sind. Ich käme nicht auf den Gedanken zu sagen, wer einer Oppositionspartei angehört, sei kein Politiker.

Aber man hat ja einen gewissen Ehrgeiz und möchte das, wofür man steht, im Idealfall auch umsetzen. Und dafür braucht es Menschen, die das genauso sehen und – nun, was würden Sie sagen, ist der bessere Begriff für folgen?

Menschen, die dem zustimmen. Das heißt ja nicht, dass die in jedem Punkt die gleiche Meinung haben. Ich habe schon oft genug Menschen getroffen, die mir gesagt haben: „In dieser oder jener Frage habe ich eine andere Meinung, als Sie. Aber ich finde es gut, dass Sie bei Ihrer Überzeugung bleiben. Auch, wenn die Partei mit Mehrheit mal eine andere Haltung einnimmt.“

Nun ist es ja so, dass man im Diskurs Kompromisse finden muss. Ein wesentliches Merkmal der Demokratie, um Dinge voranzubringen. Wie viel Kompromissbereitschaft verträgt Haltung eigentlich?

In Deutschland schwingt ja immer das kleine Wörtchen faul mit. Auch, wenn nicht fauler Kompromiss gesagt wird, ist die Konnotation meistens negativ. Und das ist in einer Demokratie ohne absolute Mehrheit der mit Abstand häufigste Fall. Das muss ja kein schlechter, kein fauler Kompromiss sein. Ich muss ja für alles eine Mehrheit haben und wenn ich sie selbst nicht habe, brauche ich einen Partner. Wenn der Partner andere Vorstellungen hat, muss ich ihm entgegenkommen, sonst kommt es nicht zu einer Mehrheitsentscheidung.

Tut das der Haltung gut oder ist es ihr eher abträglich?

Gute Frage. Für mich war immer das entscheidende Kriterium, dass es ein bestimmtes Ziel gibt und ich mit dem Kompromiss diesem Ziel zumindest ein Stückchen näher komme. Auf keinen Fall in die entgegengesetzte Richtung.

Schwäche zeigen, ist das in der Politik heute möglich?

Dann müssten Sie konkretisieren, was Sie unter Schwäche verstehen.

Fehler zuzugeben zum Beispiel.

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkKommt eher selten vor, ist aber meiner Überzeugung nach vertrauensbildend, wenn jemand zugibt, dass man eine falsche Einschätzung hatte oder mal einen Fehler gemacht hat. Sollte man aber nicht jeden Tag machen, dann hat man offensichtlich den falschen Beruf gewählt.

Ich habe den Eindruck, dass es den Menschen in unserer Kultur sehr schwer gemacht wird, Fehler zu machen. In Amerika beispielsweise heißt es eher „hinfallen, aufstehen, besser machen“. Bei uns ist man immer sehr vorsichtig.

Man muss Fehler und Fehler unterscheiden. Wenn eine Operation derart schief läuft, dass der Patient verstirbt, dann kann man nicht sagen: „So, das ist jetzt mal passiert, beim nächsten Mal besser machen.“ Dann wird das gründlich analysiert, vielleicht auch unter strafrechtlichen Gesichtspunkten.

Was ist das Schönste an Meinungsverschiedenheiten?

Ich weiß nicht, ob der Begriff schön richtig ist.

Das Wertvollste?

Der Diskurs darüber, welches Argument das wichtigste, das tragendste ist. 

Haben Sie mal von einem Gesprächspartner etwas gelernt, auch wenn er eine völlig andere Meinung vertreten hat?

Jeden Tag. Wenn er ein gutes Argument hat, höre ich mir das gerne an und lasse mir das auch durch den Kopf gehen, ob da nicht doch was Wahres dran ist.

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, was glauben Sie ist das Wichtigste, das Sie Ihren Kindern mitgegeben haben?

Das ist nicht ein einziger, besonders wichtiger Punkt, sondern das ist, wenn Sie so wollen, eine Haltung. Eine Art der Lebensführung. Aufrichtig zu sein, auf andere Menschen unbefangen zuzugehen, ehrlich zu sein. Ich glaube, dass das wichtige Merkmale sind für den zwischenmenschlichen Umgang. Und, dass das auch zurückgespiegelt wird. Dann wird das Feedback,  das man erhält, ebenso sein. Jedenfalls meistens.

Sie haben mal bei Coop gearbeitet. Gibt es aus ihrer Zeit als Angestellter in einem Supermarkt ein Erlebnis, das Sie besonders beeindruckt hat? Positiv oder auch negativ? 

Was ich negativ erlebt habe war ganz klar, dass ich nicht vor 19:30 Uhr zu Hause war. Da waren viele Kumpels schon beim Training. Das war wirklich bitter. Ansonsten hat mich der Umgang mit Menschen sehr geprägt. Ob das nun Kunden sind oder Wähler. Denn den richtigen Umgang mit Menschen, die ganz unterschiedliche Charaktere und ganz unterschiedliche Temperamente mitbringen, muss man schon lernen.

Was ist denn der richtige Umgang mit Menschen?

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkZunächst einmal, gut zuhören zu können. Viele sagen ja: „Oh, toller Politiker, der kann gut reden!“ Ein Politiker muss erst einmal gut zuhören können, um zu wissen, was den Menschen bewegt, was ihn interessiert und umtreibt, was er von einer Partei, einer Fraktion oder von mir persönlich erwartet. Da muss man sehr gut hinhören und auch mal nachfragen. Um sich dann selbst die Frage zu beantworten: Kann ich helfen, kann ich der Erwartungshaltung entsprechen, ja oder nein?

Ich habe manchmal den Eindruck, dass es uns heutzutage schwerer fällt zuzuhören …

Ich weiß nicht, wer uns ist, ich kenne ja nicht Ihre Familie. (Schmunzelt) Ich weiß nicht, ob es früher anders war, aber was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Umgangsformen rauer geworden sind. Ob es an der hektischen Zeit liegt oder am Internet oder an der Möglichkeit, mit Pseudonymen oder anonym posten zu können, das weiß ich nicht, aber die Umgangsformen sind rauer geworden.

Unser verändertes Kommunikationsverhalten führt in meiner Wahrnehmung dazu, dass wir weniger zuhören und mehr raushauen.

Nehmen Sie mal das Eingangszitat, das ist ein sehr schönes Beispiel. Strafrechtlich völlig irrelevant und aus meiner Sicht kompletter Unsinn. Aber der, der das geschrieben hat, wird glauben, dass seine Meinung objektiv richtig ist und daher von allen geteilt werden müsse. Dann kann der Autor der Zeilen ja mal in meine Post schauen, wo in 90 % der Fälle exakt das Gegenteil steht. Ich lese oder höre so etwas und denke: „Gut, wenn es seine Meinung ist.“ Und mache ich meine Arbeit weiter. Warum soll ich mich damit beschäftigen? Das ist wie schnell oder langsam, es kommt immer auf die Perspektive an. Wenn Usain Bolt über 100 m 11 Sekunden braucht, würden Sie sagen: „Oha, heute hat er aber einen schlechten Tag gehabt.“ Wenn ein 80-Jähriger 11 Sekunden braucht, würden Sie sagen: „Boah, ist der schnell!“ Es ist immer eine Frage der Perspektive.

Braucht Haltung Humor?

Nein, braucht sie nicht, aber es lebt sich besser damit. 

Wieviel wird eigentlich im Bundestag gelacht?

Oh, öfter als Sie glauben. Vor allen Dingen über unfreiwillige Scherze wird häufig gelacht. Schönes Zitat eines Kollegen, als es um die Frage „Dienstreise oder doch eher Vergnügen?“ ging: „Dass es keine Vergnügungsreise war, können Sie schon daran erkennen, dass meine Frau dabei war.“ (Wir lachen.)

Ich würde Ihnen gern einen kurzen Moment zum Nachdenken geben und Sie dann bitten, ein Plädoyer für mehr Haltung zu formulieren.

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkNein, das tue ich deshalb nicht, weil ich dann den Eindruck erwecken würde, hier sitzt einer, der Haltung hat und alle anderen haben keine. Wenn ich für etwas plädieren möchte, dann dafür, der eigenen Überzeugung treu zu bleiben. Auch, wenn man das Gefühl hat, es wird vielleicht nicht von der Mehrheit geteilt oder gar goutiert. Ich habe gestern Abend noch eine Mail bekommen: „Vertreten Sie doch mal eine bestimmte Meinung. […] Wenn Sie das sagen, hat das mehr Bedeutung, als wenn ich das sage. Den anschließenden Shitstorm halten Sie doch locker aus.“ Meine Antwort: „Das ist aber nicht meine Meinung.“
Wenn ich sage: „Nein, ich teile nicht diese Auffassung“, dann liest der Empfänger: „Der will keinen Ärger haben.“ Es geht nicht darum, ob ich anschließend Ärger oder Zustimmung bekomme. Es geht darum, ob es meiner Überzeugung entspricht. Ich habe das nicht wissenschaftlich untersucht, aber ich glaube, man würde es mir ansehen, wenn ich eine Meinung vertreten würde, die ich tatsächlich nicht habe.

Sie sagten mal in einem Interview, dass die Menschen ein sehr gutes Gefühl dafür haben, ob jemand bei sich selbst sei oder nicht. Ohne Authentizität geht es nicht?

Genau. Schauen Sie, ich wohne hier seit über 68 Jahren, viele Leute kennen mich von Kindesbeinen an. Was soll ich denen vormachen? Die würden es mir doch ansehen, wenn ich eine Rolle spielen würde und nicht bei mir selber wäre.

Aber spielt man nicht im politischen Geschäft eine Rolle?

Wer ist man? Mag sein, dass es den Einen oder Anderen gibt. Ich habe mich zumindest immer darum bemüht, so aufzutreten, wie ich tatsächlich bin, und nicht zu glauben, ich muss jetzt etwas tun, weil es erwartet wird oder gut ankommt.

Meine Vermutung ist, dass wir als Menschen ganz allgemein ohne Rollen nicht gut zurechtkämen. Weil wir im Miteinander immer verschiedene Aufgaben übernehmen …

Aber das ist ja keine Rolle.

Sondern?

Rolle ist, wenn ich in etwas schlüpfe, das ich gar nicht bin. Schauspieler besetzen Rollen, wenn der Typ zur Figur passt.

Sehen wir als Zuschauer im Fernsehen oder im Internet Schauspiel, wenn wir Bundestagsdebatten sehen?

Nein, Schauspieler tragen Texte vor, die sie in der Regel nicht selber geschrieben haben.

Das heißt, Politiker schreiben ihre Reden wirklich alle selbst?

(Schmunzelt) Tja, es gibt jetzt hunderte verschiedene Talente. Aber im Ernst: Es gibt Kollegen, die ihre Reden selbst schreiben und es gibt solche, die sich, wie ich auch, von ihren Referenten Zahlen, Daten, Fakten zusammenstellen lassen, aber dann die Rede selbst konzipieren. Das dürften die meisten sein. Viele von denen gehen, wie ich, mit Stichworten ans Mikrofon und sehen gar nicht mehr auf den Zettel, weil sie im Kopf haben, was sie sagen wollen. Aber dass im Bundestag Abgeordnete Reden vortragen, die zu 100 % von anderen geschrieben wurden, dürfte der Ausnahmefall sein.

Das beruhigt mich, weil ich manchmal den Eindruck habe, dass das so ist.

Es gibt ja oft Entwürfe, die gemacht und anschließend mehr oder weniger stark verändert werden. Wenn Sie dann mal die Rede und den Entwurf nebeneinander legen, werden Sie vielfältige Abweichungen finden. Ist ja klar: Bist du der erste Redner, kann ja kein Plagiat vorliegen, es hat ja noch keiner geredet. Aber wenn du der zehnte Redner bist, dann sind ja die Hälfte der Argumente schon längst vorgetragen worden. Warum soll ich die dann noch mal wiederholen? Und wenn ich der Sechste oder Achte bin, dann haben ja schon viele der Konkurrenz vor mir gesprochen und dann kann ich mich ja auch mit ihren Argumenten auseinandersetzen.

Wieviel Leidenschaft darf man zulassen, wenn man politisch vorträgt?

Gegen Leidenschaft spricht erst einmal nichts, wenn es nicht geifernd, sabbernd ist. Mit Leidenschaft wird ja oft extemporiert. Da ist nicht unbedingt derjenige am leidenschaftlichsten, der am wildesten herumgestikuliert. Heinz Riesenhuber war dafür ein schönes Beispiel. Der hatte wirklich Leidenschaft für alles was er sagte, ist hin und her gelaufen, hat mit Händen und Füßen gesprochen, hat dabei aber immer die Waage gehalten. Es wurde nie albern.

Ich komme ja gedanklich aus der Arbeitswelt …

Glauben Sie mal nicht, dass die Politiker nicht aus der Arbeitswelt kommen. (Lacht) Sicher eine andere Form der Arbeit, als die Herstellung von Gütern oder Durchführung von Dienstleistungen. Aber gearbeitet wird da auch.

Und das sicher hart. Wenn man sich mit der Organisation von Arbeit beschäftigt kommt man früher oder später auf das Thema Mitarbeiterführung. Findet das auch in der Politik statt?

Ja und nein. Nun darf man ein durchschnittliches Abgeordnetenbüro mit vier oder fünf Mitarbeitenden nicht mit BASF verwechseln, da müssen wir mal die Kirche im Dorf lassen. Aber auch da brauchen Sie Personalführung, nur eher im Sinne von Motivation.

Nehmen wir mal BASF als Beispiel. Wenn man Sie anrufen und zu Ihnen sagen würde: „Herr Bosbach, können Sie uns nicht einen Tipp geben, wie wir als Führungsmannschaft mit unseren Mitarbeitern umgehen sollen, damit sie das Gefühl haben, wir sind noch bei ihnen?“

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkDas ist ein sehr schönes Beispiel, weil es genügend Experten geben wird, die das genau erklären können, noch bevor sie einen Fuß in die Tür gesetzt haben. Ich würde sagen, ich muss vorher im Konzern erst einmal einen Monat arbeiten. In verschiedenen Abteilungen von Produktion bis Buchhaltung, um zu wissen, wie sie mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen. Aber es gibt vermutlich genügend Experten, die sagen: „Das kann ich ihn jetzt genau sagen“, weil sie das ohnehin schon zig Unternehmern gesagt haben.
Ich kann es nur von mir selbst anhand zweier Beispiele schildern und dann wird auch deutlich, wie untypisch der Beruf des Abgeordneten ist: Das Jahr hat 52 Wochen, davon sind nur 22 Sitzungswochen. Als der Bundestag noch in Bonn war, war klar, der Chef kann jeden Moment ins Büro kommen. Das ist in Berlin anders. Da wissen alle genau, wann die Chefin oder der Chef kommt und wann sie oder er wieder geht. Weil Flüge gebucht werden müssen und so weiter. Ich konnte mich in den 17 Jahren Berlin zu 110 % auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlassen. Ich wusste immer, auch wenn ich nicht da bin, zieht nicht der Schlendrian ein, weil sie das machen, was sie gerne machen. Dann gehst du auch morgens gerne zur Arbeit.
Ein zweites Beispiel: Bei mir hatte sich eine Mitarbeiterin im Büro beworben. Und es hätten ja 600 andere Büros zur Verfügung gestanden. Nach dem sehr netten Gespräch habe ich gefragt: „Warum wollen Sie eigentlich ausgerechnet bei mir anfangen? Ich habe ja nicht einmal eine Stelle ausgeschrieben?“ Darauf hat sie gesagt: „Ich beobachte immer Ihre Mitarbeiter in der Kantine mittags. Die lachen immer, die haben immer Spaß. Ich möchte auch mal in einem Büro arbeiten, wo man viel Spaß hat.“ Ich sagte: „Moment, bei uns wird aber hart gearbeitet.“ Das wäre ihr egal, sie fände es toll, dass die immer zusammen gehen, Freude haben und sich auf die Arbeit freuen. Das war immer mein Bestreben, dass die Mitarbeiter sagen: „Das mache ich gerne.“ 

Darf ich fragen, nach welchen Kriterien Sie Mitarbeitende ausgewählt haben, wenn Sie selbst mit in den Gesprächen gesessen haben?

Zunächst einmal ist das entscheidende Kriterium die Erfahrung für diese Tätigkeit. Also nicht nur die theoretische Qualifikation, sondern auch die praktische Qualifikation. Und dann muss es auch menschlich passen. Gerade weil es so ein persönliches und enges Vertrauensverhältnis ist. Man sieht sich ja jeden Tag.
Bei BASF sehen nicht alle jeden Tag den Vorstandsvorsitzenden. Aber im Abgeordnetenbüro sieht jeder jeden Tag für Tag und muss mit ihm zusammenarbeiten. Da muss es auch menschlich passen. Sicher, es gibt bestimmte Qualifikationen und Anforderungen, die für bestimmte Tätigkeiten erfüllt sein müssen. Bei mir war es Innen- und Rechtspolitik, da brauchst du einen Volljuristen. Da genügt es nicht, wenn der Abgeordnete selbst Volljurist ist, mindestens ein Referent oder eine Referentin sollte diese Qualifikation auch noch haben. Zumindest das 1. Juristische Examen.

Und dann kommen zahlreiche Bewerber mit akademischen Abschlüssen, wo die theoretische Fähigkeit auf dem Papier vorliegt, man aber nicht einschätzen kann, wie sie diese umsetzen. Wie schwer wiegt also der menschliche Eindruck, den man ja nur schwer messen kann?

Das habe ich auch gar nicht vor. Erst wenn die formalen Voraussetzungen erfüllt sind, kommt die entscheidende Frage, ob ich persönlich glaube, dass es menschlich passt oder nicht. Das eine hängt mit dem anderen untrennbar zusammen.

Glauben sie an Intuition?

Ja, wobei das ja nicht immer hundertprozentig zutreffend sein muss. Man stellt auch manchmal nach ein paar Monaten fest, dass es nicht passt. Und dann muss man sich eben wieder trennen. Es tun sich beide Seiten keinen Gefallen, wenn sie dann unbedingt daran festhalten, weil sie sich die Fehleinschätzungen zu Beginn nicht zugestehen wollten. Und umgekehrt auch. Es gibt Arbeitnehmer, die sagen: „Nein, das ist doch nicht das Richtige für mich.“

Wenn Sie eine Sache in der Arbeitswelt verändern dürften und Sie würden morgen aufwachen und sie wäre eingetreten, was wäre das?

Wolfgang Bosbach im Gespräch zu Employer Standing mit Jan Willand von menschmarkSeid nett zu euren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Denn erstens geben sie es euch zurück durch überdurchschnittlichen Einsatz. Und zweitens: Immer freundlich sein zu euren Nachwuchskräften, es könnten mal eure Chefs werden.

Ein passenderes Schlusswort hätte ich nicht formulieren können. Wieder einmal wurde mir klar, dass die positive Konnotation, mit der wir in der Regel das Wort Haltung versehen, von grundlegenden Tugenden herrührt. Und viel mehr mit Menschlichkeit zu tun hat als mit aufgebauschten Führungskonzepten oder strategischen Wertesystemen.

Tugend“ ist ein schönes Stichwort, das ich in mein nächstes Gespräch mitnehmen werde. Dann frage ich den ehemaligen Tätowierer und heutigen Fernsehzeichner und Graphic Recorder Andreas Gaertner unter anderem, welche Farbe Haltung hat. Und bis dahin denkt dran:
Immer schön Haltung bewahren!

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